Umgang der Berliner Piratenpartei mit dem Fall L. B.

Gestern sind Vorwürfe laut geworden, wonach ein Mitglied der Piratenpartei Berlin sich wiederholt durch Erpressung, Nötigung, usw. hervorgetan hat. Der Landesvorstand hat daraufhin eine knappe Stellungnahme veröffentlicht, in der Betroffene darum gebeten werden, rechtlich gegen den mutmaßlichen Täter vorzugehen. Ich habe mit dieser Stellungnahme zwei Probleme.

Zuerst einmal halte ich es für zweifelhaft, dass eine rechtliche Verfolgung auch nur einer der beteiligten Parteien hilft. Dem mutmaßlichen Täter mag das Jugendstrafrecht vielleicht helfen wollen, ich bezweifele aber, dass der formalistische und repressive Strafprozess und die danach eventuell verhängte Strafe dazu wirklich taugt. Für die Betroffenen ist es vermutlich eine Erleichterung, die Vorgänge offenzulegen, das Strafverfahren wird aber wenig Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nehmen. Es muss nicht mal – wie im vorliegenden Fall – um sehr persönliche Vorgänge gehen, um eine Zeug_innenaussage zu einer unerträglichen Erfahrung für Betroffene zu machen. Darüber hinaus ist ein Strafverfahren nicht nur systematisch ignorant gegenüber den Bedürfnisses der Betroffenen, sondern reproduziert im Zweifelsfall herrschende Diskriminierungen wie Sexismus und Rassismus. Schließlich wird ein Strafprozess dem sozialen Zusammenhang (der Community) nicht helfen, sondern im Gegenteil nötige Lernprozesse verhindern.

Mein zweiter Kritikpunkt an der Stellungnahme ist der darin vorgeschlagene Umgang der Community mit den Vorgängen: Die Verantwortung der Community wird abgestritten und die nötige Auf- und Verarbeitung wird aus der Community heraus an die Betroffenen selbst bzw. die Strafverfolgungsbehörden delegiert. So heißt es im Text: „Die Aufklärung von Straftaten obliegt weder der Netzgemeinde noch kann sie durch Parteiorgane erfolgen. Dies ist Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.“ Das mag, was Straftaten angeht, richtig sein. Die Vorfälle – nicht nur überhaupt, sondern auch noch ausschließlich – als Straftat zu betrachten, ist allerdings weder selbstverständlich noch angemessen. Vielmehr sollten die Berliner Pirat_innen (nicht als Individuen, sondern als sozialer Zusammenhang) die Vorgänge als der Gemeinschaft zugefügte Verletzung betrachten. Der Umstand, dass die Vorgänge überhaupt möglich waren, sollte als systematischer Fehler angesehen werden. Er lässt sich nicht individualisiert beheben, lässt sich nicht weg-bestrafen: Der Landesverband Berlin der Piratenpartei ist ein sozialer Zusammenhang, in dem Erpressung und Nötigung möglich sind, in dem ein Einzelner ein Klima der Angst schaffen kann, in der Betroffene sich nicht trauen, solche Vorfälle zu thematisieren. Mit diesem Umstand sollte sich auseinandergesetzt werden.

Die Community ist jedoch wie oben genannt nicht nur der Ort, an dem die Vorfälle stattfanden, sondern auch selbst betroffen. Ein solcher Vorfall ist eine schwere Belastung für einen sozialen Zusammenhang. Eine Aufarbeitung der Vorfälle muss daher im sozialen Rahmen des Landesverbandes Berlin stattfinden, muss auch die Folgen für den sozialen Rahmen thematisieren und bearbeiten. Konzepte wie Community accountability oder allgemein Restorative justice („Ein Gerechtigkeitskonzept, das die Bedürfnisse der Betroffenen, Täter und der Community in den Vordergrund hebt, anstatt abstrakte legale Prinzipien zu erfüllen oder Täter zu bestrafen“) erscheinen mir dafür angemessen. Sich mit diesen Konzepten auseinander zu setzen, und sie einzusetzen, kann auch dabei helfen, den oben beschriebenen systematischen Fehler zu bearbeiten.

Aktualisierung 18. Dezember 2011: In einer neuen Stellungnahme wird nicht mehr ausschließlich zu einer rechtlichen Verfolgung aufgerufen. Darüberhinaus ruft der Vorstand „alle Mitglieder dazu auf, gemeinsam Mechanismen zu finden, damit sich alle Mitglieder in der Partei wohlfühlen und am politischen und sozialen Geschehen ohne Angst teilnehmen können.“.

Eine Antwort auf „Umgang der Berliner Piratenpartei mit dem Fall L. B.“

  1. Sehr richtiger Kommentar.
    Eine Auseinandersetzung ist wichtig und sollte nicht auf seelenlose Repressiv-Organe abgeschoben werden. Zumal wenn die ‚Straftat‘ ja eigentlich den Kern des Selbstverständnisses der Piraten – die Informationsfreiheit – berührt.
    Insofern finde ich den neuen Schwenk in der Betrachtungsweise (18. 12.) konsequent und Mut machend!

    Herzliche Grüße und noch Glückwünsche zum Berliner Erfolg
    Wolle

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