Der neutrale Staat

An Staaten wird häufig der Anspruch gestellt, neutral zu sein. Ob es um die steuerrechtliche Gleichstellung verschiedener Formen des Zusammenlebens, die ungleiche Unterstützung verschiedener Glaubensgemeinschaften oder eine Geschlechtsquotierung in der Wirtschaft geht – Menschen lehnen Eingriffe von Recht und Staat als ungerecht ab. Dem Ideal der staatlichen Neutralität sollte jedoch nicht immer entsprochen werden.

In vielen Fällen wird schnell offenbar, dass hinter Forderungen nach Neutralität in Wahrheit andere konkrete Interessen stehen; Männerrechtler_innen und Antifeminist_innen lehnen die Quote nicht aufgrund ihres idealistischen Staatskonzeptes ab, sondern, weil sie die Ziele der Quote ablehnen. Auch die Proteste für ein Frauenwahlrecht waren nicht von idealistischen Gleichheitsgedanken getragen – Ziel war nicht ‚gleiches Recht für alle‘, sondern ‚kein ungleiches Recht mehr gegen uns‘.

Solche scheinbar opportunistischen Ziele sind durchaus legitim, denn staatliche oder rechtliche Neutralität sind lediglich Illusionen – jedes Recht wird irgendwie normieren, jeder Staat sich irgendwie verhalten müssen. Neutralität ist in diesem Fall nur die größtmögliche Toleranz gegenüber aktuell Vorstellbarem. Im Wahlrecht wird diese relative Neutralität deutlich: Wahlberechtigt sind immer jene, denen die Fähigkeit zur und ein begründetes Interesse an politischer Partizipation zugerechnet wird. An der Existenz und ausschließenden Wirkung dieser Kriterien hat sich nichts geändert, sondern nur Frauen das eine wie das andere zugebilligt; Alter, Nationalität und Wohnort sind jedoch unverändert Kategorien, nach denen hier aussortiert wird. Dieses Wahlrecht wird genauso als gerecht, gleich und neutral empfunden wie vor 100 Jahren das damals gültige Wahlrecht als gerecht empfunden wurde.

Das Recht gestaltet und reguliert das tägliche Leben in einem gleichermaßen umfassenden wie unsichtbaren Maße. Dass es feste Wohnsitze, Privateigentum oder privaten Kraftverkehr gibt, ist weder selbstverständlich noch unumstritten; dass Straßen Allgemeingut sind, aber WLAN nicht offen sein darf, Fernseh- und Radio von allen empfangen, aber nur wenigen gesendet werden – alles Festlegungen, mit denen Recht und Staat gestaltet. Solche Festlegungen werden aber nicht willkürlich vorgenommen. Der Staat ist keine gott- oder naturgegebene Instanz, sondern eine Herrschaftsform, die von einem ausreichend mächtigen Teil einer Gesellschaft einmal ausgewählt wurde und wird – Neutralität war dabei kein Ziel.

In seinem Text „Die Freiheit der Sexistin“ lehnt Felix Neumann staatliche Maßnahmen gegen sexistische Werbung ab. Dabei argumentiert er ausgiebig mit der Neutralität des Staates: „Politik ist gerade nicht die Sache des Staates. Politik ist die Sache der Gesellschaft.“ Diese Dichotomie staatlich – gesellschaftlich (fraglos – fraglich, rechtlich – moralisch) ist aber eine selbstreferenzielle, keine absolute: Staatlich geregelt wird nur das Neutrale, Unzweifelhafte, und neutral ist genau das, was staatlich geregelt wird. Wenn der Staat Homosexualität verfolgt, ist das eben fraglos falsch, und wenn er es ignoriert, ist es eine Frage der Moral. Die Sphäre der Gesellschaft, in der Widersprüche verhandelt werden, wird also nicht nur von der Sphäre des Privaten, in der alles erlaubt, weil unsichtbar ist, begrenzt, sondern auf der anderen Seite von der Sphäre der Staatlichkeit, die Diskursfähiges von Fraglosem trennt und genau dadurch als neutral wahrgenommen wird.

Allein dadurch, dass er Werbung – mithin ein krasser Eingriff in die Wahrnehmung aller Menschen – erlaubt und sie wirtschaftlichen Interessen unterwirft, gestaltet ein Staat. Indem er Werbung dem Markt zuführt, schafft er einen weiteren Raum für die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese Reproduktion willkürlich zu regulieren, wird die gesellschaftlichen Verhältnisse – die zu ändern das eigentliche Ziel sein muss – kaum berühren. Als Teil eines gesellschaftlichen Kampfes auch rechtliche und staatliche Gefechte zu führen, ist aber legitim. Auf eine Aushandlung des Widerspruchs allein in der bürgerlichen Zivilgesellschaft zu hoffen, ist verfehlt, denn die dort herrschenden Machtverhältnisse reproduzieren sich auch in Recht und Staat: eine Sexismus ablehnende bürgerliche Gesellschaft wird sich kein zu Sexismus neutrales Recht geben.

4 Antworten auf „Der neutrale Staat“

  1. Neutral ist der Staat zumindest darin, dass er von den unterschiedlichen guten und schlechten Lagen der Individuuen absieht und alle erstmal gleich als Rechtssubjekte behandelt. Das gleiche Recht – z.B. bzgl. Privateigentum – nützt dem Obdachlosen und dem Millionär dann aber auch unterschiedlich. In der Gleichbehandlung stellt der Staat unterschiedliche reale Lagen her.

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