Der Winterkongress 2009 des BAKJ – Kritische Juristen

Vom 29. Oktober bis 1. November fand in der Berliner Rütli-Schule der Winterkongress des Bundesarbeitskreises kritischer Juragruppen statt. Im BAKJ haben sich Gruppen linker Jura-Student_innen vieler deutscher Universitäten zusammengeschlossen, der Kongress wird halbjährlich von einer der beteiligten Gruppen veranstaltet. Der Winterkongress 2009 stand unter dem Motto „Wollen wir Recht haben? – Zwischen rechtspolitischer Praxis und Systemkritik“ und wurde von der Gruppe kritische jurist_innen an der fu-berlin veranstaltet.

Kerntage des Kongresses waren der Freitag und Samstag. An diesen Tagen fanden in vier zweieinhalbstündigen Blöcken insgesamt 18 Workshops und am Abend je eine Podiumsdiskussion statt. Thematisch wurde von den überwiegend eingeladenen Referent_innen dabei ein weites Feld von Familienpolitik über rassistische Polizeigewalt und Telekommunikationsüberwachung bis hin zu Schulpflicht und politischen Strafverfahren abgedeckt. Von den drei angekündigten Workshops zu Genderthemen fielen leider zwei aus. Während der Workshops waren meist rund 40 Teilnehmer_innen anwesend, die sich in Gruppen von 5 bis 30 Leuten zusammenfanden. Insbesondere die Podiumsdiskussion am Samstag war wesentlich besser besucht.

Im ersten Block besuchte ich einen Workshop zu Familienpolitik. Dabei konzentrierte sich die Referentin Lisa Haller vor allem auf die familien- und geschlechterpolitischen Effekte des Steuer- und Arbeitsrechts. Diese Bereiche erfuhren in den letzten Jahren eine Veränderung, die ihrer Meinung nach ein verändertes Familienmodell selbst widerspiegeln. Bisher wurde in diesen Steuerbereichen ein konservatives Familienbild ausgedrückt – das Familienernährermodell. Ein einzelnes Familienmitglied – traditionellerweise der Mann und Vater – erwirtschaftet in Vollzeitarbeit den Barunterhalt für alle Angehörigen. Die Frau übernimmt die Reproduktionsarbeit und liefert damit den Naturunterhalt. Der Gesetzgeber behauptet, aus dieser Ungleichheit würde keine Ungleichwertigkeit folgen, da Reproduktions- und Erwerbsarbeit gleichwertig seien. Konzepte wie das Ehegattensplitting sollen in dieser Situation Reproduktionsarbeitsleistende dafür schützen, auch noch zur Erwerbsarbeit herangezogen zu werden. Die theoretische Gleichwertigkeit der verschiedenen Unterhalte spiegelt sich jedoch in der Praxis nicht wider. Sozialsysteme sind klar erwerbsorientiert. Die familieninterne Teilung des Erwerbs wird vorausgesetzt, bleibt aber Privatsache. Dadurch kann der Mann als Arbeitgeber und Wohltäter gegenüber der Frau auftreten.

Die neue Familienpolitik verspricht eine Abkehr von diesen Rollenzuschreibungen – beide Partner sollen gleichermaßen an Reproduktions- wie auch an Erwerbsarbeit beteiligt werden. Dabei wird jedoch kein Gleichstellungssinteresse verfolgt, sondern mit der Familie ein weiterer Bereich der Gesellschaft der kapitalistischen Verwertung zugeführt. In der neoliberalisierten Familie nehmen nicht nur beide Partner aktiv am Arbeitsmarkt teil, sondern die Reproduktionsarbeit wird zunehmend von anderen geleistet, also dem Arbeitsmarkt zugeführt. Außerdem kann in der Abkehr vom Familienernährermodell eine Senkung des Lohnniveaus erreicht werden, da der Lohn einer einzelnen Vollzeitbeschäftigung nicht mehr für den Unterhalt einer gesamten Familie ausreichen muss.

Die Referentin fasste ihren Vortrag mit der These zusammen, die neue Familienpolitik wäre geschlechterpolitisch fortschrittlich, sozial aber eine Katastrophe. Ich sehe dementgegen jedoch noch nicht einmal eine nennenswerte Verbesserung in der Geschlechterpolitik. Dem konservativen Familienmodell liegt eine feste Rollenzuschreibung zugrunde, die in jedem Fall zu kritisieren ist, die allen Menschen Freiheiten nimmt und zu ein Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern bestärkt. Die neue Familienpolitik hebt diese Rollenverteilung jedoch nicht auf, denn sie kann sich auf eine feste gesellschaftliche Verankerung dieser Verhältnisse stützen. Die Reproduktionsarbeit wird weiterhin von Frauen geleistet, nur dass diese nun teilweise aus gesellschaftlich niedrigeren Schichten stammen. Auch bei der Erwerbsarbeit wird es weiter klare geschlechtlich begründete Unterschiede geben; die neoliberale Familie hat keine zwei Vollverdiener. Dafür wird der schwache Schutz, den das Familienernährermodell in all seiner Beschränktheit bietet, aufgegeben.

Dieser Workshop wurde später übereinstimmend von vielen Teilnehmer_innen als selbst auf dem Kongress herausragend bezeichnet; vor allem die freundliche und offene Atmosphäre wurde hervorgehoben. Eine Teilnehmerin meinte, in der Diskussion hätte sich frei geäußert werden können, ohne dass das Geäußerte von anderen als eigene Position aufgefasst und entsprechend angegriffen wurde. Ein solches offenes Sammeln von Aspekten und Thesen erleichtert die Beschäftigung gerade mit derart komplexen und ambivalenten Themen.

Es folgte der Workshop „Eine Kritik des Rechts“ von einem Vertreter der Gruppe „jimmy boyle“. Die angekündigte tiefgreifende Kritik am bürgerlichen Recht in seiner Gesamtheit fand leider nicht statt oder war für mich nicht nachvollziehbar. Der Referent stützte sich sehr auf den Gedanken, dass das Recht selbst erst Konflikte schafft, die es danach ver- und behandelt. Mit Sicherheit richtig, aber keine ausreichende Kritik. Auch das Leben schafft erst all die Probleme mit denen wir uns tagtäglich auseinandersetzen. Interessant jedoch war der Gedanke, dass das Zivilrecht von unüberwindbaren Differenzen ausgeht und lediglich einen „gerechten“ Weg sucht. in Bezug auf Strafrecht wurde die dünne These aufgestellt, es würde keine Straftaten verhindern und durch die Katalogisierung der Straftaten einen Status Quo erwarten und manifestieren – Verbrechen werden lediglich verwaltet. Die Diskussion im Workshop war zäh, aggressiv, und weitgehend ergebnislos.

Die Podiumsdiskussion verhandelte die Nebenklage als Werkzeug rechtskritischer Rechtsanwält_innen. Ein Vertreter der Brandenburger „Opferperspektive“ sprach sich für die Nebenklage als Mittel zur Unterstützung der überwiegend von rechtsextremer Gewalt Betroffenen aus. Anna Luczak aus Berlin sah das Mittel der Nebenklage als zu kritisierende Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft an. Im Kern stimmten aber beide überein, die Nebenklage je nach Interesse ihrer Mandanten einzusetzen – die einen wollen das Verfahren lieber schnell hinter sich bringen, die anderen möglichst beim ganzen Prozess anwaltlich begleitet werden.

Am Samstag besuchte ich „Die Früchte der Folter“ von Ulrich Klinggräff. Er berichtete von zwei Verfahren, die selbst ihn als langjährig aktiven politischen Strafverteidiger in ihrer mangelnden Rechtsstaatlichkeit schockierten. Beim ersten handelt es sich um ein zum Teil noch laufendes Verfahren gegen fünf Türken, die der Mitgliedschaft in der türkischen stalinistischen Splitterpartei DHKP-C, in Deutschland als terroristische Vereinigung geltend, verdächtigt werden. Die 400-seitige Anklageschrift wirft nach Paragraph 129b StGB die Durchführung von Schulungen, Geldaufwendungen, Verteilung von Dokumenten und als Sonderfall die Beteiligung an einem Waffentransport vor. Das Verfahren fand über zweieinhalb Jahre an 2 bis 3 Prozesstagen pro Woche vorm Staatsschutzsenat in Stuttgart-Stammheim statt. Die Prozessakten umfassen über 200 Leitzordner.

Der Mandant von Ulrich Klinggräff war alevitischer Geistlicher und begann inspiriert durch seine religiöse Arbeit mit der Unterstützung in türkischen Gefängnissen Inhaftierter. Insbesondere kommunistische Türken und Kurden werden häufig von türkischer Polizei und Justiz gefoltert – ein Umstand, der von der Bundesregierung ebenso wie der Europäischen Union zugegeben wird. Eine Mitgliedschaft in der DHKP-C oder der PKK gilt wegen der hohen Foltergefahr regelmäßig als Nichtabschiebegrund vor deutschen Asylgerichten. Auch Klinggräffs Mandant wurde nach Beginn seiner politischen Arbeit in kommunistischen Gruppen inhaftiert und gefoltert und konnte vor vielen Jahren nach Deutschland fliehen, wo er als Folteropfer Asyl bekam. Einige der fünf Angeklagten sind gesundheitlich – teilweise in Folge der durchlebten Folter, spätestens aber nach über zwei Jahren isolierter Untersuchungshaft – schwer angeschlagen.

Wichtige Beweismittel die im Prozess zum Einsatz kommen sollten sind Protokolle von Vernehmungen vermeintlicher DHKP-C-Mitglieder in der Türkei. Diese sollten über ein Rechtshilfeersuchen in den deutschen Prozess eingeführt werden. In Deutschland gilt – ebenso wie in vielen anderen westlichen Ländern – ein Verwertungsverbot für illegal gewonnene Beweise. Die Bundesanwaltschaft wollte dieses Verbot jedoch nur dann akzeptieren, wenn zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass die Vernehmungen unter Einsatz von Folter durchgeführt wurden – die bloße Wahrscheinlichkeit dafür wollte sie nicht gelten lassen. Einige der Vernommenen gingen nach dem Verhör in stationäre ärztliche Behandlung. Bundesregierung, Gerichte und Europäische Union gehen, wie im Fall des Asyls schon genannt, von einer erhöhten Foltergefahr für Personen aus dem Umkreis der DHKP-C aus. Dennoch sollten die Unterlagen zugelassen werden. Die Beweise sollten mit der Befragung zweier hochrangiger Polizeibeamten aus Istanbul in den Prozess eingeführt werden. Die beiden Polizisten haben Strafverfahren wegen Folter laufen. Die Bundesanwaltschaft fragte daher beim Istanbuler Polizeipräsidium an, das bestätigte, dass nahezu allen Mitgliedern der Abteilung der Einsatz von Folter vorgeworfen wird. Diese Vorwürfe wurden jedoch als politische Retourkutschen dargestellt; eine Behauptung, die Gericht und Bundesanwaltschaft akzeptierten. Die Vernehmung der beiden Zeugen konnte schließlich lediglich durch anwaltliche Maßnahmen am Tag der Zeugenaussagen verhindert werden.

Ebenfalls aufschlussreich ist der einzige Zeuge für den behaupteten Waffentransport – ein Doppelagent des Landesamt für Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz und der Türkei. Trotz seiner herausragenden Rolle als Kronzeuge konnte er ohne Identitätswechsel und mit bekannter Anschrift weiterleben. Eine solche Situation nannte Klinggräff äußerst unüblich, normalerweise sind Kronzeugen aus Sicherheitsgründen kaum für eine Aussage in einem Prozess zu haben. Bei seinen Aussagen vor Gericht stellte sich der Zeuge als offensichtlich psychisch kranker religiöser Eiferer heraus, der sich als heiliger Krieger gegen das Böse, also Kommunisten, verstand. Wegen seiner psychischen Schwierigkeiten war er jahrelang in Behandlung, für seine Arbeit als Doppelagent auf Bewährung verurteilt. Eine Mitarbeit beim Verfassungsschutz leugnet er trotz klarer Beweise. Dieser offenkundig nicht nur unzureichnungsfähige, sondern vor allem auch voreingenommene Mensch wurde dennoch als äußerst wichtiger Zeuge im Verfahren verwendet. Ein der Bundesanwaltschaft nahestehender Gutachter bescheinigte ihm eine „partielle Aussageunfähigkeit“.

Allgemein bezeichnete Klinggräff den 129b als „Verurteilungsparagraph“ – ein Freispruch ist praktisch unmöglich. Anders als bei 129a, der hauptsächtlich zu Ermittlungszwecken dient, kommt es auch häufig zu Anklagen. Das Verfahren endete schließlich auch im DHKP-C-Prozess für die meisten Angeklagten mit Deals. In einem anderen DHKP-C-Verfahren in Düsseldorf scheinen die Früchte der Folter ebenso gerne verwendet zu werden.

Ein anderer Fall, den Klinggräff ansprach, war der zweier Waldorfschüler, denen ein Molotovcocktailwurf am 1. Mai 2009 vorgeworfen wird. Der einzige belastende Beweis ist die Zeugenaussage von zwei Polizisten. Privatpersonen lieferten Photos, die eine andere Gruppe von Personen zeigt, auf die die Täterbeschreibung passt. Gegen diese wurde von der Staatsanwaltschaft nur nach Drängen Klinggräffs überhaupt ermittelt. Bei einer daraufhin stattfindenden Hausdurchsuchung wurde ein Benzinkanister in einem Bettkasten gefunden, jedoch nicht beschlagnahmt. Wiederum auf Drängen der Anwälte sollte dieser später beschlagnahmt werden, war aber nicht mehr aufzufinden. Hier wird also nicht nur wie üblich mit Indizienbeweisen oder ausschließlich auf Grundlage von Polizeiaussagen gearbeitet, sondern mit allen Mitteln versucht, zwei bestimmte Personen wegen versuchten Mordes zu verurteilen.

Auch der letzte Workshop des Kongresses stand für mich im Zeichen politischer Strafverfahren. Die beiden Berliner Rechtsanwältinnen Undine Weyers und Regina Goetz diskutierten mit uns, welche Merkmale einen Prozess zu einem politischen machen, wann also dieser Kampfbegriff angemessen ist. Daneben berichteten sie über das vor kurzem abgeschlossene mg-Verfahren und die zu dem Zeitpunkt laufenden Verfahren gegen angebliche Brandstifter in Berlin.

Der Kongress war inhaltlich sehr interessant. Durch die langen Zeitblöcke konnten einzelne Themen deutlich intensiver behandelt werden. Die Relevanz des Leitthemas zeigte sich mir in allen Workshops ebenso wie bei den Podiumsdiskussionen – nachhaltig bearbeitet wurde sie meines Wissens nach aber nur in der Diskussion am Samstag.

Das Umfeld des Kongresses war herausragend angenehm; leckeres, veganes Essen, freundlicher und entspannter Umgang, sehr nette und offene Leute. Offen waren alle auch für Nichtjurist_innen, für Spontanbesuche, für Linksradikale und weniger Radikale, für Menschen jeglicher geschlechtlicher Identität oder Herkunft.

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